Im August 2024 ist im Verlag Barbara Budrich der Band Den Einstieg in den Rechtsextremismus verhindern. Aufsuchende Distanzierungsarbeit gegen Radikalisierung bei jungen Menschen. Ein Leitfaden von Rebekka Grimm, Judith Meixner, Lisa Müller, Malte Pannemann und Peer Wiechmann erschienen. Die Autor*innen sind im gemeinnützigen Verein Distanz – Distanzierungsarbeit jugendkulturelle Bildung und Beratung e.V. engagiert. Was steckt hinter Distanz e.V., was wurde schon erreicht und was sind die nächsten Ziele? Wir haben ein Interview mit dem Geschäftsführer Peer Wiechmann geführt.
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Lieber Peer Wiechmann, was genau tut Distanz e.V.?
Distanz e.V. (DeV) ist ein gemeinnütziger Verein und Träger des Zentrum für Distanzierungsarbeit (ZfD) in Thüringen. Der Fokus dieser Tätigkeit, im Auftrag des Thüringer Ministerium für Soziales, Gesundheit, Arbeit und Familie, liegt auf der Eindämmung von Demokratiedistanz, Rechtsextremismus (Rex.) und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF).
DeV ist meines Erachtens bundesweit der einzige Verein, der sich originär ausschließlich im Handlungsfeld der Distanzierungsarbeit (DA) versteht, der berät/fortbildet sowie direkt mit der Zielgruppe (ZG) arbeitet. Unsere aktuellen Publikationen im Verlag Barbara Budrich und bei der Bundeszentrale für politische Bildung unterstützen pädagogische Fachkräfte bundesweit u. gestalten die Weiterentwicklung des Praxisfeldes entscheidend mit.
Das Team von DeV baut auf jahrelange Erfahrungen im Bereich intensivpädagogischer Einzel- u. Gruppen-Distanzierungstrainings (DTrainings) sowie jugendkultureller und Medien-Workshops mit von uns sogenannten rechtsextrem einstiegsgefährdeten und orientierten jungen Menschen. DeV arbeitet aufsuchend, überwiegend im ländlichen Raum.
Das Team verbindet in seiner pädagogischen Arbeit unterschiedliche Ansätze miteinander: Methoden der sozialen, politisch(-historischen), medienpädagogischen und jugendkulturellen Bildung kommen ebenso zum Einsatz wie systemisch-lösungsorientierte, biografische u. genderreflektierte Ansätze und Transfermethoden aus der Anti-Gewalt-Arbeit. Das ZfD bietet landes- wie bundesweit (Erst-)Beratung, Fort-/Weiterbildung sowie Coachings für Pädagog*innen (Päds) und Multiplikator*innen (Multis) an.
Unsere Erkenntnisse aus der DA mit jungen Menschen fließen anonymisiert als Erfahrungsschatz in die Erwachsenenbildung, u.a. mit den erwähnten publizierten Arbeitshilfen, ein. Mit Hilfe zugeschnittener Gesprächstechniken werden Erstinterventionen und langfristige, strategische Herangehensweisen an die multiplen Herausforderungen von Radikalisierungsgefährdung gemeinwesenorientiert professionalisiert.
DeV setzt sowohl auf eine starke Vernetzung mit Akteur*innen der Jugend- und Präventionsarbeit und der kommunalen Regelstrukturen als auch auf ein landes- und bundesweit starkes, stetig wachsendes Partner*innen-Netzwerk. Durch unsere systematische und koordinierte Regionsarbeit, gemeinsam mit überregionalen, fachlichen Akteur*innen, entsteht konstruktiver Austausch und breite Resilienz gegenüber Demokratiedistanz, Rex. u. GMF. Der Verein arbeitet vertraglich verbunden über Leistungen des SGB VIII/JGG mit verschiedenen Jugendämtern (JAs) zusammen, sodass Distanzierungsarbeit als Querschnittsaufgabe in die Regelstrukturen einfließt.
Zudem ist DeV in der digital-hyperlokalen Lebenswelt mit Angeboten der Online-Distanzierungsarbeit (ODA) aktiv. Hierfür wurde u.a. im Innovationsprojekt „Echt Jetzt?!“ eine Social-Media-Identität aufgebaut, die zur präventiven, contentbasierten Arbeit den Fokus auf Pre-Bunking von Verschwörungsmythen legt, sowie mit aufsuchender Arbeit durch geschulte Online-Trainer*innen in Kommentarspalten und Online-Communities interveniert.
Wie ist der gemeinnützige Verein entstanden?
Distanz – Distanzierungsarbeit, jugendkulturelle Bildung und Beratung – e.V. wurde 2019 in Weimar gegründet. Der gemeinnützige Verein widmet sich als erster Verein bundes- vielleicht sogar europaweit dem immer noch jungen Feld der sogenannten Distanzierungsarbeit mit jungen Menschen im Phänomenbereich Rechtsextremismus.
Der Fokus dieser Tätigkeit, neben der Intervention gegen Rechtsextremismus, liegt aber auch schon auf Interventionen bezüglich Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Nochmal zum Verständnis: Die Distanzierungsarbeit steht als eigenständiger Ansatz zwischen der Präventionsarbeit (vorbeugende Maßnahmen, hier: gegen Rechtsextremismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit) und der Ausstiegsarbeit (Loslösung aus Strukturen des organisierten Rechtsextremismus).
Distanz e.V. wurde in Thüringen dann Träger des Zentrums für Distanzierungsarbeit (ZfD), bei dem sich Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen und im weitesten Sinne Multiplikator*innen, die mit unserer Zielgruppe arbeiten, hinsichtlich eines zielführenden und konstruktiven Umgangs mit rechtsextrem einstiegsgefährdeten und orientierten Jugendlichen beraten lassen können.
Ich denke sowohl die Gründung als auch das Wachstum des Vereins zeigen deutlich die Bedarfe, die der aktuelle Rechtspopulismus insbesondere im Übergang zum Rechtsextremismus mit sich bringen.
Was ist seit Gründung von Distanz e.V. passiert? Auf welche Meilensteine blicken Sie zurück?
Innerhalb der letzten sechs Jahre konnten wir das Zentrum für Distanzierungsarbeit nachhaltig in Thüringen und in Teilen auch bundesweit etablieren. Wir arbeiten bzw. beraten in Teilen auch im Ruhrgebiet, Berlin/Brandenburg, ab 2026 voraussichtlich auch in Mecklenburg-Vorpommern.
Der nächste Step ist unser europäisch ausgerichteter Fachaustausch im Rahmen des neuen europäischen Netzwerkes „EU Knowledge Hub on Prevention of Radicalisation“. Entsprechend sind wir auf 16 Mitarbeiter*innen und einem Pool von ca. 30 Honorarkräften gewachsen.
Wir sind bekannt für die aufsuchende und lebensweltorientierte Arbeit mit jungen Menschen über intensivpädagogische Einzel- und Gruppentrainings, Workshops und Schulprojekttage sowie unsere Arbeit mit den Signalgeber*innen, Multiplikator*innen sowie Pädagog*innen/Sozialarbeiter*innen/Lehrer*innen. Hier bieten wir vom kurzen Erstberatungsgespräch bis zum einjährigen Institutionscoaching, Fort- wie Weiterbildung alles an, was Menschen, die mit rechtsextrem einstiegsgefährdeten und orientierten jungen Menschen zu tun haben, helfen kann.
Damit wir unseren Distanzierungsansatz konstruktiv verbreiten und damit auch unsere Unterstützung der Fachkräfte verbreitern, sind unter den vielen Veröffentlichungen die Publikation beim Verlag Barbara Budrich als auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Grundlagenaufsatz der Distanzierungsarbeit als eigenes Handlungsfeld wichtige Meilensteine unserer Arbeit. Diese Veröffentlichungen entlasten uns zudem in der Beratungsarbeit.
Wie können Menschen Distanz e.V. unterstützen?
Wir sind ein sogenannter Spezialträger für die aufsuchende Distanzierungsarbeit in ländlichen Räumen mit rechtsextrem einstiegsgefährdeten und orientierten jungen Menschen. Insofern besteht unser Team aus Fachkräften und deshalb setzen wir beispielsweise kein Ehrenamt ein.
Wir sehen unsere Aufgabe auch schon eher als eine staatliche Zuständigkeit, die auch entsprechend ausfinanziert werden sollte. Immer wieder tun sich aber auch gerade in der aktuellen politischen Situation finanzielle Lücken auf, da helfen natürlich auch mal Spenden, um diese Lücken zu überbrücken. Jeder Cent hilft letztlich, unser Maßnahmenangebot noch mehr in die Breite zu tragen und trägt damit zu einer demokratischen Gesellschaft bei: https://www.distanz.info/spenden/.
Mit jeder Spende können mehr Trainings mit Einstiegsgefährdeten durchgeführt und die Gefahr weiterer Betroffener von Gewalt in Zukunft gemindert werden. Weil eben nicht alle nötigen Maßnahmen immer von Fördergeldern gedeckt sind, gerade innovative Projekte sind wichtig für eine sich stetig wandelnde Gesellschaft – auch hier hilft die Spende. Letztlich hilft die Spende natürlich in diesen Zeiten, zu überbrücken, wenn bspw. der Haushalt eines Landes noch nicht beschlossen ist und Mittel erst im zweiten Jahresquartal fließen. Aus diesen Gründen gerne spenden:
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Gibt es Pläne für die Zukunft? In welche Richtung soll sich der Verein entwickeln?
Das Erstarken von Rex. zeichnet sich spätestens in den Landtags- und Bundestagswahlen seit 2024 deutlich ab und wird sich voraussichtlich auch die nächsten Jahre erstmal verstetigen. Aktuelle Krisen werden von rex. Akteur*innen instrumentalisiert und verstärken die Hinwendung zu autoritären, rechtspopulistischen sowie rex. Bewegungen/Denkmustern.
Diese verbreiten sich u.a. in strukturschwachen Regionen, in denen sich Menschen benachteiligt fühlen. In Thüringen wird bspw. bis 2040 ein Bevölkerungsschwund von 10,9% prognostiziert, von dem kleine Kommunen im ländlichen Raum besonders betroffen sein werden und so ein Gefühl der Abgehängtheit vor Ort entsteht. Bei belasteten rex. geprägten Milieus zeigen sich zudem Multiproblemlagen, die sozioökonomisch/sozialpsychologisch bedingt sind und eine hohe Sucht- und Gewaltlatenz evozieren. Dieses Konglomerat trägt dazu bei, dass sich politisch motivierte Straftaten auf einem sehr hohen Niveau bewegen.
Doch auch hyperlokale Kontexte müssen in den Blick genommen werden. Neurechte Akteur*innen nutzen Soziale Netzwerke strategisch geschickt zur Normalisierung menschenfeindlicher Ansichten sowie zur Rekrutierung. Sie stoßen dort v.a. bei jungen Menschen auf offene Ohren: Bei der U18-Wahl 2024 gaben die meisten Kinder und Jugendlichen beispielsweise in Thüringen ihre Stimme rex. Parteien.
Dieses gesellschaftliche Klima ist auch auf Schulhöfen, in Jugendclubs und online für (päd.) Fachkräfte spürbar und als milieuübergreifendes Phänomen zu begreifen. Es braucht insofern langfristige, hyperlokale Interventionen und die Adressierung bereits latenter menschen-/demokratiefeindlicher Einstellungen – auch ohne Straftatsbezug.
Zentral ist, sog. emotional-funktionale Äquivalente als Ersatz für die emotionalen Anreize und Hinwendungsfunktionen zu menschenfeindlichen Einstellungen und rex. Botschaften an junge Menschen anzubieten. Es müssen im Grunde Kompetenzen von jungen Menschen aber letztlich auch von Fachkräften gestärkt werden, um mit belastenden Emotionen, u.a. Einsamkeit, Krisenerleben und Ambiguität, direkt oder indirekt konstruktiv und nicht destruktiv umzugehen. Diese Ansätze problematisieren sowohl expliziten Rex. als auch Delikte und Haltungen aus dem Affektbereich der GMF und der Demokratiedistanz. Unsere Angebote für Fachkräfte bieten praxistaugliche Unterstützung im Umgang mit Radikalisierungstendenzen und schaffen die notwendige strukturelle Integration der aufsuchenden DA.
Zentraler wird zudem immer mehr die enge Kooperation mit sensibilisierten Regelstrukturen von Jugend-/Schulämtern, Schulen und Institutionen der Jugend(sozial)arbeit, die den Zugang zu jungen Menschen darstellen. Notwendig ist zum einen dafür eine langfristige Sicherung dieser Beziehungsarbeit und zum anderen aber auch die Weitung der Ansätze der DA on- wie offline: Gamifizierung als niedrigschwelliger Ansatz sowie Online-DA als dringend notwendiges Angebot in einer rex dominierten Social Media Lebenswelt.
Auf den beschriebenen Bedarf hat beispielsweise unser Innovationsprojekt „Transform“ ab 2025 ambitionierte und innovative Maßnahmen als Antwort, mit denen die (O)DA wirksamer und flächendeckender greifen kann sowie diverse Hinwendungsstadien adressieren.
Der Interviewpartner
Peer Wiechmann M.A. – Geschäftsführende Leitung von Distanz e.V.
Peer Wiechmann prägt bundesweit seit Ende der 1990er Jahre die Jugendkulturarbeit mit rechtsextrem einstiegsgefährdeten und orientierten Jugendlichen im Rahmen der Prävention und Intervention. Heute ist er überwiegend in der aufsuchenden Distanzierungsarbeit tätig.
Wiechmann schloss 2000 an der „Freien Universität Berlin“ mit dem Magister sein Studium der Publizistik, Soziologie, Politologie und Teilgebieten des Rechts erfolgreich ab. Journalistisch arbeitete Wiechmann seit Ende der 1990er Jahre bundesweit für öffentlich-rechtliche Radiosender als Autor und war seit 1999 Gründungsredakteur des „Journal der Jugendkulturen“ vom „Archiv der Jugendkulturen e.V.“ Berlin.
Nach seiner Tätigkeit als Landeskoordinator für die „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ in Berlin war er 2005 Gründungsmitglied des cultures interactive e.V., ab 2007 leitete er diesen in Berlin und Weimar bis 2019 als Geschäftsführer. Nach Thüringen/Weimar kam Wiechmann 2006 außerdem als Leiter der civitas-geförderten „Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus“ bei „Radio LOTTE Weimar“. Seitdem fokussiert er sein Wirken auf die ländlichen Regionen Thüringens.
Anfang 2020 hat Wiechmann nunmehr für „Distanz e.V.“ Weimar die geschäftsführende Leitung u.a. des „Zentrums für Distanzierungsarbeit“ sowie der Bundesmodell-/Innovationsprojekte „D-Netz – Netzwerke der Distanzierungsarbeit und Trainings mit rechtsextrem einstiegsgefährdeten und -orientierten Jugendlichen“ und „transform“, übernommen.
→ Zur Website von Distanz – Distanzierungsarbeit jugendkulturelle Bildung und Beratung e.V.
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